9. Oktober 2022. Man kann nur einen Menschen wirklich lieben, aber durchaus erkennen, dass auch andere Personen attraktiv sind. Für den, den man liebt, stellt dies natürlich keine Gefahr dar.
So geht es mir mit Eintracht-Braunschweig und den FC St. Pauli. Mein Herz schlägt natürlich unüberhörbar für den Verein aus der Stadt an der Oker, während gleichzeitig der Club vom Elbstrand mit seinen Reizen nicht geizt. St. Pauli ist nämlich das gute Gewissen des deutschen Fußballs. Den braunen Hemden zum Trotz, in denen die Spieler antreten müssen, sind die Vereinsmitglieder und -fans überzeugte Antifaschisten. Der Kiezklub ist in den 80ern von linken Fans, die es beim HSV aufgrund der damaligen rechten Umtriebe in der Fanszene nicht mehr ausgehalten haben, gekapert worden. Er ist damit zu einem Aushängeschild des linken Milieus in Deutschland geworden und hat Fans in aller Herren und Damen Länder gewonnen. St. Pauli ist cool und hat in der Pop-, Punk- und Subkultur Kultstatus.
Und wer etwas auf sich hält und Fußball und Politik verbinden will, trägt stolz den Totenkopf von Waterkant auf der Brust. Trotzdem darf sich die Eintracht meiner Liebe sicher sein. Seinen Verein sucht man sich nämlich nicht aus, er wird einem gegeben. Ich habe mich in die Eintracht verliebt, als sie in der Saison 2012/2013 um den Aufstieg in die Bundesliga kämpfte.
Der 17. Dezember 2012 war es, als ich zum zweiten Mal in meinem Leben das Stadion an der Hamburger Straße besucht habe, um mir den Verein anzugucken, über den plötzlich so viel Gutes zu hören war. Der sympathische Trainer Torsten Lieberknecht pushte damals das Team zu Höchstleistungen. Das war beeindruckend und ich wollte mir daher vor Ort selbst ein Bild machen.
Es war ein bitterkalter Freitagabend und auch das Flutlicht konnte das Stadion nicht erwärmen. Und doch herrschte an diesem Abend eine geradezu heimelige Atmosphäre. Der Gegner an diesem Abend hieß Union Berlin. Dessen Fans beeindruckten mich durch eine großartige Choreografie, während ich in der Nordkurve kalten Platz genommen hatte.
Die berühmt-berüchtigte Südkurve schwieg an diesem Abend aufgrund eines bundesweiten Stimmungsboykotts der aktiven Fanszene, während die Union-Fans nach einigen Minuten schon wieder singen und tanzen durfte, da ihr Verein bei einer wichtigen Abstimmung zur richtigen Zeit die Hand gehoben hatte.
Doch auch das Spiel war damals phänomenal. Die Mannschaften lieferten sich einen heftigen und wunderschön anzuschauenden Schlagabtausch, der das Publikum ermunterte, ein ums andere Mal La Olas durch das Oval zu jagen (die über den trotzig schweigenden Block 9 herüberspringen mussten). Und es wurde skandiert und gesungen, dass es eine Freude war. Das Spiel ging schließlich 4:3 für die Eintracht aus. Ab diesem Zeitpunkt war ich Eintracht-Fan, ging immer häufiger ins Stadion, erwarb schließlich meine erste Dauerkarte. Es folgten unzählige Siege, Niederlagen und Unentschieden, diverse Auf- und Abstiege, schöne Zeiten und schwere Krisen (und manchmal beides gleichzeitig)! Aber meine Liebe blieb unerschütterlich. Das liegt natürlich auch daran, dass Eintracht eine Familie ist (und wie in jeder Familie gibt es nette Familienmitglieder und nicht so nette). Meinen Stammplatz habe ich in Block 5 gefunden, zusammen mit Freunden von mir, mit Autorenkollegen, mit ehemaligen Ultras und ewigen Heavy Metal-Fans, mit Nachbarn und Kollegen, mit meinem Sohn und seinen Kumpels, mit Punkrockern und Normalos. Es ist herrlich!
Und genau deswegen mag ich St. Pauli bloß, aber liebe die Eintracht! Weil hier meine Leute sind. Weil überhaupt hier in Braunschweig meine vier Fs sind: Familie, Freunde, Firma und Ferein.
Zurück zum Spiel gegen St. Pauli im Jahr 2022. Wir sind uns nicht einig, ob es sich hierbei um „Bolzen“ oder „Pölen“ handelt, aber hochklassiger Leistungssport sieht anders aus.
Auch der Einwand von Ulrike, dass sie schon schlechtere Spiele gesehen habe, lasse ich nicht gelten, denn ich habe auch schon bessere gesehen. Sogar im Eintracht-Stadion.
Heute jedoch gibt es keine durchdachten Spielzüge, keine atemberaubenden Einzelaktionen, keine taktische Finesse, sondern robusten Zweitliga-Fußball. Und Schiedsrichter Stegemann wird wieder einmal seinem Ruf gerecht, kein Freund der Eintracht zu sein und verteilt so fröhlich wie anlasslos gelbe Karten an die Blau-Gelben, während er den Hamburgern wirklich alles durchgehen lässt. Tollste Aktion des Tages ist ein Alleingang von Ujah, der aber einen Sekundbruchteil zu lange zögert und zur Überraschung aller Anwesenden doch kein Tor schießt.
Schließlich steht es doch irgendwie 1:1 und auch wenn zu merken ist, dass die Mannschaft mehr will, hat man sich doch schon irgendwie damit abgefunden, mit einem Unentschieden nach Hause zu gehen. Genau in diesem Augenblick, in den letzten zehn Sekunden des Spiels, erzielt die Eintracht doch noch den Siegtreffer, woraufhin das Stadion förmlich explodiert. Bierbecher (volle!) fliegen auf die Tartanbahn, Menschen springen auf den Zaun, purzeln übereinander, klatschen sich ab, jubeln, schreien, lachen.
Nur die Gästekurve schweigt schockerstarrt. Bei St. Pauli kriselt es sowieso schon.
Nach dem typisch norddeutschen Gefühlsausbruch im Stadion an der Hamburger Straße wird die Mannschaft gebührend gefeiert, insbesondere der kleine Sonnenschein Anthony Ujah! „Ujah! Ujah! Ujah!“, stößt die Südkurve rhythmisch hervor, aber nur, weil sich „Pherei, Pherai, Pherei!“ nicht so gut grunzen lässt. „Ujah spricht also die niederen Instinkte der Eintracht-Fans an“, behauptet Der Echte Till und ich nicke zustimmend. Anschließend gehen wir noch zu unserem Stammkiosk. „Was in Braunschweig passiert, bleibt in Braunschweig!“, wird als Tagesparole ausgegeben und so will auch ich schweigen über die Erlebnisse dieses Tages und nur noch erwähnen, dass sich auch ein Paulianer unter den Feiernden befand, den wir mit der gebührenden Gastfreundschaft willkommen hießen. Nicht unerwähnt bleiben soll jedoch, dass der Wirt uns nach unzähligen Runden Bier und Kurzen liebevoll zubereitete Gratiscocktails kredenzte, erst in Einzelbehältnissen, schließlich in einem amtlichen Eimer mit Corona-Warnaufdruck mit sechs Strohhalmen für ein gutes Dutzend potentieller Trinker.
Aber was in Braunschweig passiert, das bleibt in Braunschweig…
PS Filip Benkovic – halb Mensch, halb Kanonenkugel – wurde seinem Kampfnamen Betonkovic auch in diesem Spiel gerecht.
Mehr über Eintracht Braunschweig habe ich in meinen Büchern „Blau-Gelb-Sucht„, „Eintracht Braunschweig – Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“ und „111 Gründe, Eintracht Braunschweig zu lieben“ geschrieben.
Und hier geht es zum nächsten Spielbericht.