Fast hat man sich schon an ihn gewöhnt, an den Ukraine-Krieg. Irgendwo – also zwei Nachbarländer weiter – tobt ein kleinerer Krieg, dessen Frontverlauf sich kaum noch verändert. Mal wird hier ein Dörfchen erobert, mal dort eine Brücke gesprengt. Dazu gelegentlich ein Drohnenangriff. Beschaulich könnte man diesen Krieg nennen, wenn es nicht zu zynisch wäre. Die allgemeine Lesart ist die, dass es sich hierbei um einen „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ Russlands handelt. Doch tragen nicht auch die EU und die NATO zumindest eine Teilschuld daran? Und wie sieht es überhaupt in der Ukraine selbst aus? Wie hat sich dort die Politik entwickelt? Gerald Grüneklee untersucht in seinem Buch „Nur Lumpen werden überleben“ die unterschiedlichen Aspekte des Krieges, die in den etablierten Medien selten thematisiert werden.

Grüneklee trägt interessante Informationen zusammen, die das makellose Bild der Ukraine in den hiesigen Medien durchaus ankratzen. Dazu gehört beispielsweise eine vergangenheitsverklärende Geschichtspolitik, die die Aufgabe hat, die ukrainische Geschichte patriotisch umzudeuten. Im Verbund mit einer nationalistischen Kulturpolitik wird damit das Nation Building des Landes weiter vorangetrieben. Nicht zu vergessen der lächerliche Heldenkult, der um Selensky betrieben wird. Grüneklee zufolge beendet dieser jede Rede mit den Worten „Ruhm der Ukraine“.

Auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik unterwirft Grüneklee einer genaueren Betrachtung. Von der immer noch grassierenden Korruption abgesehen, sind hier die neoliberalen Prämissen folgende Privatisierung von Staatsbetrieben, der Kampf gegen die Gewerkschaften und die Verarmung der Bevölkerung zu nennen. Grüneklee erkennt hier einen Klassenkampf von oben. „Es sind, wie so oft in der Weltgeschichte, wieder einmal die Ärmsten, die als erste den Kopf hinhalten müssen, für die Interessen der Mächtigen“, konstatiert er. Immerhin hätten rechtsextreme Parteien in der Ukraine unter Selensky an Zustimmung verloren – was Grüneklee zufolge daran liegt, dass der ukrainische Präsident diese „mit seiner Politik mitnimmt und politisch integriert.“

Doch der Autor spannt noch einen größeren Bogen, in dem er darauf hinweist, dass es auch im Westen Oligarchen gäbe, die entsprechenden Einfluss auf die Politik nähmen und dass der militärisch-industrielle Komplex ein monetäres Interesse daran hätte, dass dieser Krieg geführt wird. Überhaupt sei dies nicht nur ein regionaler Konflikt, denn zu seinen Begleiterscheinungen gehört auch die Inflation, unter der auch in Deutschland vor allem die ärmeren Schichten zu leiden haben.

Nicht zuletzt kommt Grüneklee zu dem Schluss, dass die NATO und ihre Propagandaabteilung maßgeblich am Ausbruch des Krieges beteiligt wäre. Auch die hiesigen Medien und Politiker würden ihn befeuern. Allerdings ist er weit davon entfernt, die russische Großmachtpolitik verharmlosen zu wollen, weist aber auch die drohende Eskalation durch die militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine durch NATO und EU hin.

Im zweiten Teil des Buches geht Grüneklee der Frage nach, wie sich Linke zum Krieg verhalten soll. Was sind die Aufgaben und Optionen der Friedens- und Ostermarschbewegung? Wie können ukrainische und russische Kriegsgegner und Deserteure unterstützt werden?

Grüneklee schlägt die „soziale Verteidigung“ vor, die unter anderem „Streiks, Boykotte, Nichtzusammenarbeit, die Demaskierung des Gegner mit Mitteln der Kommunikationsguerilla, zivilen Ungehorsam, die Blockade von Munitionsdepots und anderen Standorten der Kriegslogistik sowie die aktive Sabotage der Rüstungsproduktion sowie der kriegsrelevanten Transportwege (umfasse).“ Und weiter: „Der Widerstand gegen den Krieg muss zugleich als sozialer, antikapitalistischer Kampf geführt werden. Als Generalstreik, beinhaltend die Behinderung, Störung und Sabotage der Kriegsinfrastruktur, -logistik und -technologie.“ Als handelndes Subjekt macht er die „Marginalisierten, Gedemütigten und Prekarisierten“ aus, also die titelgebenden „Lumpen“.

Grüneklee hat in fast jedem einzelnen Punkt recht. Und doch geht die Rechnung am Ende nicht auf. „Auf Seiten aller Beteiligten geht es um Machtpolitik, um Wirtschafts- und Rohstoffpolitik, um Geschichtspolitik. Denn es es ist kein Krieg zwischen einer Demokratie und einer Diktatur. Beide Seiten sind kapitalistisch (ebenso wurden auf beiden Seiten rechte Verbände in die Armeen integriert), es geht nur um die Verteilung der politisch-ökonomischen Macht. Alles Geraune um Freiheit ist, es kann nicht genug betont werden, bloßes Blendwerk“, schreibt er. Mit solchen Sätzen differenziert der in der anarchistischen Tradition stehende Autor zu wenig zwischen einem autokratischen Staat wie Russland und einer parlamentarisch verfassten Demokratie wie der Ukraine.

Das heißt nicht, dass die ukrainische Regierung und die aktuellen Entwicklungen in dem Land nicht auch kritisiert werden dürfen. Aber es bedeutet eben auch, dass die Unterschiede herausgearbeitet werden müssen. Gerade für Linke sollte es nicht schwer sein, zu erkennen, dass in Russland Oppositionspolitik fast unmöglich geworden ist. In der Ukraine ist diese auf absehbare Zeit jedoch durchaus praktikabel. Und Grüneklees Fixierung auf zivile Protestformen verstellt die Perspektive auf eine realistische Friedenspolitik, die im Fall des Ukraine-Kriegs wohl in einem baldigen Waffenstillstand zu suchen wäre.

An anderer Stelle heißt es: „Nur gegen den Krieg sein reicht nicht, Kern des Übels sind die Staatlichkeit und die zerstörerische kapitalistische Weltökonomie.“ Und genau hier – bei der Staatlichkeit – irrt er sich. Marx und Engels wussten schon im 19. Jahrhundert, dass sich Sozialisten im Zweifelsfalle auf die Seite der bürgerlichen Demokraten (so unzulänglich deren Politik auch immer ist) schlagen müssen, damit sie die Freiheit haben, für ihre Freiheit zu kämpfen.

Trotz dieser Einschränkungen liefert Grüneklees Buch wichtige Bausteine für die Diskussion um diesen Krieg und wie sich die Linke dazu positionieren sollte.

Gerald Grüneklee: Nur Lumpen werden überleben – Die Ukraine, der Krieg und die antimilitaristische Perspektive, ISBN-978-3-99136-509-9, mandelbum kritik & utopie, Berlin 2024, 15 Euro

https://www.mandelbaum.at/buecher/gerald-grueneklee/nur-lumpen-werden-ueberleben/

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