„Man könne froh sein, wenn sich der Sänger noch den Text merken könne“, hatte jemand aus meinem Bekanntenkreis einmal gesagt. Till wies die Urheberschaft für diesen Satz an diesem denkwürdigen Abend im August 2023 jedoch weit von sich. Dabei hätte er sogar Recht gehabt!

30 € hatte der Eintritt gekostet – nicht ganz wenig Geld für eine Punkband, die ihre größten und eigentlich auch einzigen Erfolge in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte. Aber mit dem Kultalbum „Another Waysted Night“ hatten sie immerhin einen Meilenstein des Hardcore-Punks vorgelegt, bevor sie im Laufe der Jahre in seichtere Metal-Gefilde abdrifteten, immer auf der Jagd nach Bier und einigen von Budweiser gesponserten Dollar.

„Another Waysted Night“ bleibt jedoch. Das Album klingt wie AC/DC auf Speed und Chris Doherty singt, schrillt, gritzelt, dass es immer noch eine Freude ist und man beim Hören kaum sitzen bleiben kann.

Als ich mir im Braunschweiger KufA-Haus vor dem Konzert ein Wolters gönne, sitzt da eben jener legendärer Sänger an der Theke. Mit einem Bier vor sich und einem vollen Schnapsglas. Ich erkenne Doherty daran, dass er mich auf Englisch anspricht. Und dass sein linker Arm herunterhängt – er hatte vor einigen Jahren einen Schlaganfall erlitten.

Ich gebe mich sofort als eingefleischter Fan zu erkennen, der „happy“ sei, dass er mit seiner Band „tonight“ hier spiele.

Er erwidert, dass es eine „pleasure“ für ihn sei und keine „work“.

Dann schiebt er mir den Jägermeister rüber und steht auf, um sich auf den Auftritt vorzubereiten.

Die beiden Vorbands Friends & Failures (HC aus Braunschweig) und Antagonizers ATL (Oi aus Atlanta) legen dann auch gut vor.

Im Anschluss betreten Gang Green die Bühne. Doherty schleppt sich ans Mikrofron und singt den ersten Song auch noch halbwegs passabel, bevor er sich beim zweiten Lied vor das Drumkit setzt und diesen Platz auch kaum verlassen wird während des ganzen Gigs.

Schlimmer noch. Vom Bühnenrand springt ein Typ herbei, deutlich jünger, aber auch schon mit grauen Haaren, und übernimmt große Teile des Gesangs für Doherty, der kaum ein Wort herausbringt, nur an und zu ins Mikro flüstert, viel zu leise, viel zu schwach.

Und ab und zu fordert Doherty den Co-Sänger auf, das Publikum zum Klatschen zu animieren.

Es ist erschütternd. Ein trauriges Schauspiel.

Man fragt sich, warum sich Doherty das antut (er ist das einzige verbliebene Original-Mitglied der Band). Braucht er das Geld? Oder kann er nicht von seiner ruhmreichen Vergangenheit lassen?

Will er es nochmal erleben? Immer und immer wieder? Die Begeisterung, die Ekstase, den Rausch eines erfolgreichen Konzertes?

Nun, heute ist ihm dies nicht vergönnt. Und vermutlich wird er es auf der gesamten folgenden Tour nicht erleben.

Die Band spielt durchaus dynamisch und mitreißend, aber der gesamte Gesangspart ist irritierend. Wenn Doherty das Interesse zu verlieren scheint, wendet er sich seinem Handy zu. Was treibt er da? Beantwortet er Fanpost? Guckt er sich noch mal schnell die nächsten zu singenden Songtexte an? Erkundigt er sich nach irgendwelchen medizinischen Testergebnissen? Man weiß es nicht.

Irgendwann geht der Gig seinem Ende entgegen. Einem Misfits-Cover folgt der Überhit „(Can‘t live without an) Alcohol“. Noch bevor die letzten Töne verklungen sind, hat Doherty schon die Bühne verlassen.

Ein gebrochener Mann. Ein tragischer Held.

Sein Betreuer bringt das Konzert zu Ende, im Liegen.

Und steht auch nicht auf, nachdem das Publikum den Saal verlassen hat. Auch er hat wohl Mühe, diesen Auftritt zu verkraften.

Niemand fordert eine Zugabe.

Wir stehen noch lange draußen vor der Tür und reden über das Konzert. Auch für uns war dieser Abend nicht leicht zu ertragen.

 

 

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