Es ist wohl an die 25 Jahre her, als meine Mitschülerin Anke mit den freudestrahlenden Worten »Der Meister kommt« den frisch gebauten Joint an mich weiterreichte. »Welcher Meister?«, fragte ich. Ich erwartete nun, dass sie beispielsweise »Bob Marley« sagte, den hörten wir nämlich gerade. Und dann hätte ich ihre Euphorie auch ein bisschen nachvollziehen können, immerhin war der Reggaegott auch schon damals ein paar Jährchen tot, was einem Auftritt von ihm eine gewisse Sensationalität verliehen hätte. »Na, Dülln«, antwortete sie stattdessen.
Es brauchte ein paar Sekunden, Minuten oder Stunden (wer kann das schon immer ganz genau unterscheiden), bis ich diese Buchstabenfolge dechiffrieren konnte. »Dylan? Bob Dylan?« – »Ja, Dülln!« – »Und das ist der Meister?«, hakte ich nach. Als Antwort hob sie an, »The answer, my friend, is blowing in the wind!« zu singen. Ich nickte und reichte die Rauchware weiter.
Vor ein paar Tagen schlug ich die Augen auf, schluckte meine Schilddrüsentablette und machte mein Handy an. Ah, eine Nachricht! »Willste mit zu Bob Dylan? Hab ne Karte über!«, fragte mein alter Freund Zausel. »Klar”, antwortete ich unvorsichtigerweise.
Bob Dylan, der amerikanische Wolfgang Niedecken, gab sich also in Braunschweig die Ehre. Ich habe vor ungefähr hundert Jahren mal einen Auftritt von ihm auf DVD gesehen – ach, nein, dann ist es wohl noch länger her – und war damals entsetzt, wie arrogant das nuschelnde Männlein aufgetreten ist. Das Publikum ignorierend sang der spätere Literaturnobelpreisträger damals sein Set herunter. Aber ich bin ja für jeden Spaß zu haben – mit mir kann man Ackergäule klauen -, so dass ich ihm eine Chance geben wollte, den schlechten Eindruck von damals wettzumachen.
Doch ich hätte gewarnt sein können. Der Wettergott wollte nicht, dass ich zur VW-Halle fahre. Gerade als ich mich auf meinen Drahtesel schwinge, öffnet er die Schleusen zum Himmel und lässt es regnen, dass Noah vor Neid erblasst wäre. Vollkommen durchnässt komme ich also am Auftrittsort an. Auf dem Weg zu unseren Plätzen schnorren wir bei Radio 21 Bier und Brezeln, irgendwie muss man die 90 Euro Eintrittsgeld ja wieder reinbekommen. 90 Euro – ja, so viel kostete der Zugang zum Tempel des Meisters. Wofür man ja wohl einiges erwarten darf. Eine Bühnenshow gehört wohl nicht dazu.
Grußlos kam Dylan auf die Bühne, Ansagen machte er – Ehrensache! – keine einzige und die Bandmitglieder hatten einen Aktionsradius von roundabout null Zentimetern. Dylan selbst schien für sich selbst zu spielen. Nur die Tatsache, dass er dem Publikum nicht Rücken und Gesäß zuwandte, ließ vermuten, dass er sich bewusst zu sein schien, nicht alleine im Raum zu sein. Oder vielleicht standen die Instrumente auch nur versehentlich in der richtigen Richtung.
Die meiste Zeit hockte er x-beinig hinter seinen Tasten, nur alle paar Lieder stand er auf und stellte sich in die Mitte der Bühne – das war seine komplette Performance. Und die Musik? Da ich kein Dylanologe bin, kann ich dazu gar nicht viel sagen, aber bei den Worten »How does it feel?« fragte ich mich tatsächlich, ob Dylan was fühlte. Und wenn ja, was? Langeweile vielleicht?
Man kann diese Attitüde der Arroganz als eine liebenswerte Marotte des Künstlers – ja, des Literaturnobelpreisträgers! (Man kann es gar nicht oft genug sagen) – ansehen und ihm sogar beginnenden Altersstarrsinn zugute halten, aber vielleicht steckt ja mehr dahinter? Denn das Publikum goutierte dieses lethargische Verhalten ja. Und damit vielleicht auch die dahinter stehende Haltung. Dabei gäbe es doch heuer eine Menge zu sagen beziehungsweise zu näseln, aber der Meister schweigt und genießt die devote Ehrerbietung, die ihm das Publikum entgegenbringt. Oder sprach er durch sein Werk zu uns? Auch dazu bin ich zu wenig Dylanologe und erkannte auch kaum seine Hits, ließ mir aber später sagen, dass er sie gespielt hat.
Ich habe in diesem Jahr schon einige Konzerte gesehen. Darunter auch von einigen Folkies, zum Beispiel bei einem Braunschweiger Straßenmusikfestival. Sie alle haben mich mehr bewegt als der Auftritt des »Meisters«. Das Gros des Publikum schien das anders zu sehen. Die Zuschauer klatschten pflichtschuldigst, gaben nach einem Mundharmonika-Solo sogar Szenenapplaus und ließen sich schließlich zu Standing Ovations hinreißen. Man hat ja 90 Euro gezahlt, dann muss es ja auch gut gewesen sein.
Dann ist das Konzert vorbei und der Abend wird doch noch schön: »Macht mal Platz, die jungen Leute wollen durch!« sagte ein älterer Herr beim Verlassen der Halle. »Das höre ich nicht mehr so häufig«, erwiderte ich. »Ich gar nicht mehr«, antwortete er. Und auf der Toilette sangen sie dann »The answer, my friend, is blowing in the wind.« Ich war gerührt und nieste.
Der Text ist zum ersten Mal im Bücherblog Wortmax erschienen.
Mehr zum Thema Popkultur gibt es hier im Blog.
Und wer wissen möchte, was ich für Musik gerne höre und warum, möge das Büchlein Keine Zukunft für immer lesen.