In Deutschland leben 13 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze und 7,5 Millionen Personen sind Analphabeten. Die Hälfte der Erwachsenen erreicht nicht die Stufe 3 von 5 des OECD-Lesetests; 17,5 Prozent bewältigen gerade einmal die Stufe 1. Und 20 bis 30 Prozent der deutschen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen verweigern dauerhaft die Teilnahme an Wahlen. Was das alles miteinander zu tun hat? Dass es große Überschneidungen bei diesen Gruppen gibt. Und dass dies dazu führt, dass diese Gruppen nicht ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend in den Parlamenten vertreten sind. Eigentlich müssten diese Menschen nämlich interessengeleitet allesamt linke Parteien wählen, also zum Beispiel Die Linke oder die PARTEI. Tun sie aber nicht.
Umso erstaunlicher ist dies, wenn man bedenkt, dass 45 Prozent der Menschen in Deutschland den Sozialismus generell für eine gute Idee halten. Andere Umfragen zeigen, dass einzelne linke Forderungen (zum Beispiel nach einer Angleichung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse) eine überwältigende Zustimmung haben. Ein Wirklichkeit gewordenes Beispiel hierfür ist der Volksentscheid in Berlin zur Enteignung privater Immobilienkonzerne, der mit fast 60 Prozent angenommen wurde.
Obwohl also linke Ideen breiten Zuspruch in der Bevölkerung finden, können Parteien, aber auch Gewerkschaften und außerparlamentarische Gruppen, diese Zustimmung nicht angemessen in praktische Politik umsetzen. Warum kann dieses ungeheure Potential nicht nur an Wählerinnen und Wählern, sondern auch an Aktivistinnen und Aktivisten sowie an Mitgliedern fortschrittlicher Organisationen und Bewegungen nicht genutzt werden? Wobei wir noch gar nicht über die 14 Prozent der Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft gesprochen haben, die hier zum Teil seit Jahrzehnten leben. Sie dürfen zwar (noch) nicht wählen, könnten sich jedoch sehr sowohl an Aktionen beteiligen als auch Mitglied linker Gruppen werden. Wozu sie allen Grund hätten, bedenkt man, dass sie tagtäglich rassistischen Zumutungen ausgesetzt sind durch die Diskriminierungen durch staatliche Institutionen und die Politik der bürgerlichen Parteien.
Noch einmal: Warum erreicht die politische Linke die Menschen also nicht, die sie eigentlich erreichen müsste? Die Antwort ist so simpel wie einleuchtend: Die Linke hat ein Kommunikationsproblem. Sie spricht nicht die Sprache, die die Menschen aus den eingangs genannten Gruppen sprechen.
Also noch einmal zurück zum Anfang: Ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland kann gar nicht lesen und schreiben oder hat zumindest erhebliche Schwierigkeiten mit dieser Kulturtechnik. Dazu zählen auch nicht wenige Menschen, für die Deutsch nicht die Muttersprache ist, die sie sich also erst mühsam aneignen müssen. Zwanzig Millionen Menschen, die nicht in der Lage sind, herkömmliche Zeitungen zu lesen. Speziell für die linke Presse sieht es noch schlimmer aus. Es gibt keine einzige relevante Zeitung aus dem fortschrittlichen Spektrum, die diese Menschen erreichen könnte. Nahezu alle Presseorgane aus diesem Bereich richten sich an Personen, die eine gehobene Sprache verwenden, die gespickt ist mit Fach- und Fremdwörtern (Kapitalismus, Neoliberalismus, tendenzieller Fall der Profitrate…), die zudem gerne in betont langen Sätzen Verwendung finden. Viele Publikationen verwenden zudem einen kryptischen linken Jargon, der Distinktionsgewinn innerhalb der abgeschotteten linken Szene verspricht, außerhalb davon jedoch wie Klingonisch klingt.
Auf der „anderen Seite“ des politischen Spektrums gibt es hingegen Boulevardzeitungen – allen voran die BILD –, die die leseschwachen Menschen zuverlässig und beständig mit (Fehl-)Informationen versorgen. Rechte kennen in solchen Dinge keine Skrupel und legen ihren Standesdünkel gerne ab, wenn es ihrer Sache und ihrer Klasse dient.
Dieser Artikel bildet übrigens keine Ausnahme von dem, was ich gerade an linken Medien kritisiere. Auch ich bringe hier viele Fachwörter in schönen langen Sätzen unter. Das kann ich, weil ich diese Sprache beherrsche. Und weil ich davon ausgehen kann, dass der Text in diesem Blog von Leuten gelesen wird, die es ebenfalls gewohnt sind, komplizierte Texte zu lesen.
Was aber ist mit den Millionen Menschen in Deutschland, für die unsere Sprache tatsächlich eine Art Fremdsprache ist? Für die es keine fortschrittliche Zeitung gibt, die sie auch nur ansatzweise lesen könnten? Wie sollen diese Menschen auf die Idee kommen, linke Parteien zu wählen oder sich in Gewerkschaften oder soziale Bewegungen zu engagieren? Zudem auch die Pressemitteilungen und sonstigen Verlautbarungen von derartigen Verbänden und Initiativen ebenfalls einen ganz ähnlichen, „elaborierten Code“ benutzen. Auch diese stellen ungeübte Leser vor erhebliche Schwierigkeiten.
Die Verwendung dieses Codes scheint zum Teil dem Wunsch geschuldet zu sein, möglichst viele Informationen unterzubringen. Irgendwie ist ja alles wichtig und muss Erwähnung finden. Überhaupt die vielen Fakten! Linke lieben es, objektiv zu wirken. Weshalb es verpönt ist, Emotionen zu zeigen oder zu erwecken. Die harten Fakten sollen schließlich für sich sprechen. Aber warum eigentlich? Funktioniert Menschen tatsächlich mehr über den Verstand oder über das Gefühl? Ist Mitgefühl wirklich etwas negatives?
Das war schon mal anders. In der Zeit der Weimarer Republik gab es eine breitgefächerte linke Presse. Sie umfasste zum Beispiel auch die Boulevard-Zeitung „Welt am Abend“ und die millionenfach gelesen „Arbeiter Illustrierte Zeitung“. Letztere war ausdrücklich darauf ausgelegt, Inhalte über Bilder zu transportieren. Die von Willi Münzenberg geleitete KPD-nahe Medienkonzern stieg zum zweitgrößten jener Jahre auf. Er trug damit in nicht unerheblichem Umfang zu den hohen Wahlergebnissen dieser Partei bei, die ab 1924 bei jeder Reichstagswahl ein zweistelliges Ergebnis erreichen konnte. 1932 bekam die Kommunistische Partei Deutschland sogar 16,9 Prozent der abgegebenen Stimmen. Doch auch über das eigene Parteiumfeld hinaus wirkte diese Presse in die Arbeiterschaft hinein und rief dazu auf, gemeinsam mit Sozialdemokraten und anderen Sozialisten den aufkommenden Faschismus zu bekämpfen.
Davon können linke Parteien heutzutage nur träumen. Insbesondere der Linkspartei gelingt es nicht, ihr Wählerpotential in den Schichten, die gerne herablassend als „bildungsfern“ bezeichnet werden, auch nur ansatzweise auszuschöpfen. Die Linkspartei war bei den Bundestagswahlen bisher nur einmal zweistellig: 2009 mit 11,9 Prozent. 2021 fiel sie sogar unter die 5-Prozenthürde. Es ist ihr also nicht gelungen, dauerhaft von den schlechten Umfragewerten und der zeitweisen Unglaubwürdigkeit der SPD zu profitieren. Nur der Gewinn mehrerer Direktmandate bewahrte sie bei der letzten Wahl davor, in die bundespolitische Bedeutungslosigkeit zu versinken. Säße die Linke jedoch nicht mehr im Bundestag, wären die langfristigen Folgen auch für die außerparlamentarische Linke katastrophal. Es würden erhebliche Finanzmittel fehlen, die linke Infrastruktur würde schwer getroffen werden und die Linkspartei könnte keinerlei interne Informationen mehr aus dem Bundestag bekommen, die für alle linken Initiativen so unverzichtbar sind. Nicht zuletzt würden unsere Inhalte nicht mehr in den Massenmedien vorkommen.
Es wäre also dringend geboten, dass die Linke in ihrer Öffentlichkeitsarbeit einen Ton anschlägt, der von den wichtigen Zielgruppen – also den armen und arbeitenden Klassen – auch gehört wird. Die gesellschaftliche Hegemonie kann jedenfalls nicht gewonnen werden, wenn bestimmte Bevölkerungsschichten – nämlich die, die ein besonders großes Interesse an einer sozialen Politik haben – von Informationen, Diskursen und Diskussionen ausgeschlossen werden. Das bedeutet daher in erster Linie, dass Inhalte verständlich formuliert werden müssen. (Es bedeutet jedoch nicht, diese Inhalte zu verfälschen.)
Wer Pressemitteilungen schreibt oder selbst Presseorgane herausgibt, aber auch wer Interviews gibt, Podcasts produziert, Redebeiträge hält oder in sozialen Medien agiert, muss sich überlegen, wer erreicht werden soll: Sind es beispielsweise Intellektuelle, Bildungsbürger und Studierende? Oder sind es Personen aus migrantischen, proletarischen oder prekären Milieus? Schreibe ich für Laien oder für Fachleute? Spreche ich vor Akademikerinnen oder vor Analphabeten? Spreche ich mit Jugendlichen, Erwachsenen oder Seniorinnen?
Wie erreicht man überhaupt das Interesse dieser Menschen? Und wie lange kann dieses bei einem Text aufrecht erhalten werden? Sollte vielleicht sogar ganz auf Fließtext verzichtet werden? Und stattdessen lieber ein Foto mit einem einprägsamen Slogan benutzt werden? Und wird Ironie tatsächlich von jedem Leser und jeder Leserin verstanden? Insbesondere beim flüchtigen Lesen im Internet?
Grundsätzlich gilt: Je mehr Menschen erreicht werden sollen, desto einfacher, verständlicher, „bürgernäher“ muss die Sprache sein. Konkret heißt das: Verwenden Sie einfache, kurze Sätze. Vermeiden Sie Gedankensprünge. Jeder Satz sollte nur einen Gedanken enthalten. Die Wortwahl der geschriebenen ähnelt der der gesprochenen Sprache. Vermeiden Sie Fremd- und Fachwörter genauso wie lange zusammengesetzte oder unbekannte Wörter. Gehen Sie sparsam mit Metaphern, Redewendungen und Ironie um. Auch wenn es schwerfällt. Und bitte keine Abkürzungen.
Eine derartige einfache Sprache erreicht Menschen mit geringer Lesefähigkeit und/oder mit mangelnden Fachkenntnissen genauso wie Ältere, denen das Lesen viel Kraft abverlangt. Auch Migrantinnen und Migranten mit geringen Deutschkenntnissen kann so der Zugang erleichtert werden. Zugewanderte ohne Deutschkenntnisse müssten hingegen vielleicht als erstes in ihrer Muttersprache angesprochen werden. Auch das ist eine wichtige Aufgabe, wenn die Linke ihre Marginalisierung überwinden will.
Menschen mit kognitiven Einschränkungen benötigen übrigens Texte in Leichter Sprache. Diese hat ganz eigene Regeln, die zum Teil deutlich von der deutschen Standardsprache abweichen. Eine einfache Sprache in dem Sinn, wie ich sie eben beschrieben habe, hält sich hingegen an alle sprachlichen Normen. Funktionale Analphabeten können natürlich durch Schriftsprache gar nicht erreicht werden. Für sie müssen eigene Zugangsmöglichkeiten geschaffen werden.
Viele Linke scheinen immer noch zu glauben, dass eine komplizierte Ausdrucksweise ein Kennzeichen dafür ist, dass Inhalte besonders intelligent sind. Oder dass komplizierte Verhältnisse eine komplizierte Sprache erfordern. Das ist ein Irrtum. Wer sich unverständlich ausdrückt, tut dies, um die einen zu beeindrucken (nämlich die aus der eigenen Peergroup) und alle anderen auszuschließen. Oder er ist sich der Problematik einfach nicht bewusst. Natürlich können Fachausdrücke sinnvoll sein, um die Kommunikation unter Fachleuten zu vereinfachen und abzukürzen. Für die Außenkommunikation sind diese jedoch eher hinderlich. Wir müssen nicht für uns selbst schreiben, sondern für andere. Die wahre Kunst besteht doch darin, auch schwierige Sachverhalte in leicht verständlichen Worten auszudrücken. Dazu gehört auch, abstrakten Begriffen konkrete vorzuziehen: „Löhne rauf! Mieten runter!“ statt „Kapitalismus abschaffen!“.
Wobei es eben nicht darauf ankommt, in formelhaften Verbalradikalismus zu verfallen oder in Arbeiterbewegungsnostalgie. Das wirkt auf die meisten Menschen eher abschreckend. Manchmal sind auch Umschreibungen besser.
Wohlgemerkt: Auch für Intellektuelle benötigen wir Publikationen, die dann auch in der dort üblichen Sprache gehalten sind. Wir brauchen also ausdifferenzierte Medien für verschiedene Zielgruppen. Und das langfristig. Es nützt überhaupt nichts, nur während des Wahlkampfes mal eine entsprechende Zeitung zu machen oder ein paar Plakate aufzuhängen. Diese Medien müssen Kontinuität haben. Und es muss sie in gedruckter Form genauso wie in Online-Versionen geben. Auch Mischformen sind denkbar: kurze (gedruckte) Texte, die mit einem Link versehen sind, der zu ausführlichen Ergänzungen auf einer Website leitet.
Also noch einmal: Die politische Linke hat sich von großen Bevölkerungsteilen abgesondert und hat damit nicht die Bedeutung, die sie eigentlich haben müsste und haben könnte. Dies ist am leichtesten an den kläglichen Wahlergebnissen nachzuvollziehen: Ausgerechnet die ärmeren Klassen, die am stärksten auf eine parlamentarische Vertretung ihrer Interessen angewiesen sind, nehmen am wenigsten an den Wahlen teil.
Wenn wir in einer langfristigen Strategie die Welt nach sozialistischen Grundsätzen ausrichten wollen, müssen wir hierfür auch eine gesellschaftliche Hegemonie erreichen. Dafür müssen Klassenbündnisse gebildet werden, die arme und arbeitende Klassen genauso wie akademische und migrantische Schichten umfassen. Selbstverständlich müssen auch alle Generationen und Geschlechter angesprochen werden.
Hegemonie erreichen wir aber nur, wenn wir alle genannten Zielgruppen in ihrem jeweiligen Soziolekt ansprechen. Insbesondere ist es wichtig, uns verständlich und einfach auszudrücken, weil wir in ärmeren Schichten mit geringer Lesekompetenz am wenigsten Zuspruch haben. Dies bedeutet vor allem, dass wir uns einfach und verständlich ausdrücken müssen. Unsere Kommunikation muss also strategischen und taktischen Zielen angepasst werden. Grundsätzlich gilt, dass wir möglichst viele Menschen erreichen und aktivieren wollen. Und nicht nur die, die uns genehm sind, weil sie einen ähnlichen soziokulturellen Hintergrund haben.
Dazu gehört natürlich auch, dass wir langfristig mit einem positiven Narrativ aufwarten müssen: eine soziale Politik, eine Politik der Gleichheit und Freiheit, ist die Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme. Eine Linke, die sich bewusst macht, dass sie die Hegemonie in der Gesellschaft nur erreicht, wenn sie alle ihre Angehörigen anspricht, wird auch die richtige Sprache hierfür zu finden. Mehrere Millionen Arme, Erwerbslose, Kleinrentnerinnen, prekär Beschäftigte und Menschen, die vom sozialen Abstieg bedroht sind, könnten die Macht haben, unsere Gesellschaft zu verändern.
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