„Also, Kinder brauchen feste Regeln…“
„Aber auch Freiräume!“
„Keine Vorschriften, aber sie müssen schon wissen…“
„Die wissen schon alleine, was gut für sie ist!“
„Kinder wissen ja gar nicht, was sie tun!“
„Deswegen kann man ihnen aber nicht alle Entscheidungen abnehmen.“
„Man kann sie doch nicht in ein Korsett sperren!“
„Aber sie müssen eine harte Hand spüren!“
„Fest wie die Wurzel, frei wie der Wipfel!“
„Sicherheit ist das wichtigste! Das allerwichtigste ist Sicherheit“
„Die russische Pädagogin Irina Prekop sagt…“
„In der Waldorf-Pädagogik…“
„Ich denke, das Kind sollte später in einen Montessori-Kindergarten…“
Seit Wochen werden wir täglich angerufen und besucht und beglückwünscht. Leute, die ich gar nicht kenne, kommen vorbei, um sich das Kind anzuschauen. „Ach ist das süß!“, sagen sie dann, vielleicht auch in dem Wissen, dass jede andere Äußerung zu einer umgehenden körperlichen Züchtigung führen würde.
Aber sie haben natürlich recht damit.
Mit ihren Ansichten zur Kindererziehung haben sie jedoch nicht recht. Zumindest nicht alle.
Besonders nicht Tante Ilse.
„Das Kind muss dringend aufgepäppelt werden!“ stellt sie fest. „Das ist ja ganz dünn! Im Krieg kamen wir immer auf die Kinderlandverschickung, da konnten wir uns mal richtig satt essen!“
„Das Kind ist nicht dünn“, denke ich, „es ist nur nicht fett.“
„Das Kind braucht dringend Zusatzkost! Muttermilch alleine reicht nicht!“ Tante Ilse ist der einzige Mensch, der jeden Satz mit einem Ausrufezeichen beendet. Das macht sie nicht nur, weil sie schwerhörig ist, sondern das liegt auch daran, dass sie von allen ihren Äußerungen so fest überzeugt ist. Solange, bis sie in einem „Zeitungsartikel“ liest, dass „amerikanische Wissenschaftler in einer Untersuchung“ das Gegenteil herausgefunden haben. Oder etwas ganz anderes. Dann haben wiederum diese Wissenschaftler in ihr künftig eine enorm engagierte Fürsprecherin. Zumindest solange, bis sie etwas anderes liest. Sie hat jedoch tatsächlich drei pädagogische Essentials, von denen sie keinen Fußbreit abzugehen bereit ist.
Erstens: weibliche Kinder müssen solange fett sein bis sie zu pubertierenden Mädchen geworden sind.
Zweitens: Pubertierende Mädchen müssen „schlank“ sein – was aber lediglich als ein Euphemismus für „dürr“ zu verstehen ist.
Drittens: Kinder brauchen Fleisch! Am besten jeden Tag! Am besten zu jeder Mahlzeit!
Zum Frühstück kredenzt sie zum Beispiel ihren Nichten und Neffen gerne lustige Frühstückswurst mit lustigen Gesichtern darauf. Zum Mittagessen gibt es dann lustige Pizza mit einem aus lustigen Salamistückchen gelegten Gesicht darauf. Und zum Abendessen gibt es dann lustige… Na ja, ich muss das wohl nicht weiter ausführen.
Nele bleibt jedoch vorerst davon verschont. Sie nuckelt weiter glücklich an Mutters Brust. Mich persönlich bekümmert dies ein wenig – weniger aus Neid auf diesen Platz an der Sonne, sondern eher deshalb, weil meine persönliche Rolle dadurch deutlich geschmälert wird. Ich bin unwichtig, denn ich gebe keine Milch!
Spaßeshalber habe ich schon versucht, Nele an meine männlich harte Brust anzulegen, doch ihr irritierter Blick war eindeutig. Sie unterscheidet einen gut gefüllten weiblichen Busen sehr wohl von einem flachen und behaarten Nichts.
Doch was soll’s? Dieser körperliche Makel hat einen großen Vorteil: Nicht ich bin es, der des Nachts zum Stillen aufstehen muss, sondern Anita hat dies schwere Los zu tragen. So stelle ich mich schlafend, wenn Nele sich des Nachts meldet, um nicht Opfer Anitas neidischer Blicke zu werden.