Wie alle Väter vor mir, nach mir und neben mir bin ich der festen Überzeugung, dass ich alles viel besser mache, als alle anderen Väter vor mir, nach mir und neben mir, natürlich inklusive des eigenen. Ich bin der neue Mann! Kein Macho, kein Softi, sondern genau richtig!

Schließlich habe ich mich durch Bücher und Zeitschriften umfassend über Kindererziehung informiert (was, wenn nicht gelogen, so doch geschwindelt ist, liest doch vor allem die Mutter meiner Tochter diese Illustrierten – auf diese Pflichtvergessenheit weist sie mich bei Gelegenheit gerne hin).

So weiß ich also, wie Kinder zu erziehen sind – und ich weiß sogar, dass ich nicht alles richtig machen kann, schließlich steht auch das in den schlauen Ratgebern.

Für das Selbstwertgefühl als Vater ist es unbedingt notwendig, sich das eine oder andere Mal ganz alleine um das Kind zu kümmern. Das ist vorzugsweise dann der Fall, wenn die Mutter sich dem ausschweifenden Nachtleben hingeben möchte und aushäusig ist. Das bedeutet dann, dass ich die, flotte 7 ½ Monate alte, Nele zu betreuen habe – na ja, eigentlich heißt es nur, dass ich da zu sein habe, falls sie aufwachen sollte. Dazu muss sie jedoch erst einmal einschlafen.

Ich füttere sie also (es gibt lecker Reisschleim mit Karottenpamps), wickle sie und gebe ihr ihre Vitamin D-Tablette. Anita legt sie noch einmal an ihre Brust, für die zusätzliche Portion Frischmilch.

Dann legen wir sie in ihre Hängematte, die über dem Schlafpodest angebracht ist. Schnell noch einen Gute-Nacht-Kuss und ab dafür. Es läuft bestens. Zufrieden schließt sie die Augen und schläft ein.

Anita verabschiedet sich von mir, gibt mir einen Gute-Nacht-Kuss und geht.

Es ist perfekt.

Zu perfekt.

Auf der Straße, wir wohnen im Erdgeschoss („Is’ praktischer, wegen dem Kinderwagen.“) macht sich die mediterrane Atmosphäre unseres Stadtviertels bemerkbar, indem irgendein Idiot minutenlang auf die Autohupe einprügelt.

Sie ist bestimmt wach geworden“, denke ich, „da war doch ein Piepsen, oder nich’?“

Schnell laufe ich zur Schlafzimmertür, mache sie leise auf, lasse das Licht aus, gehe an ihr Bettchen und lausche. Es ist nichts zu hören, nur das leise Atmen meiner Tochter. Auf dem Rückweg jedoch passiert es. Ich stolpere über ein Paar Schuhe, das dort achtlos herumliegt und auf dem Hinweg bestimmt noch nicht da war. Leider bin ich nur auf Socken, und die dezenten Arbeitsstiefelchen, die dort im Wege stehen, haben Stahlkappen. „Au, scheiße“, versuche ich leise zu fluchen, doch es ist zu spät. Nele wacht auf.

Als ich an ihrer Hängematte angekommen bin, wartet sie schon auf mich und lächelt mich an – wahrscheinlich in der irrigen Annahme, dass ich sie auf den Arm nehme. Ich erinnere mich an den Artikel „Schlaf endlich, mein kleines Scheißerchen“ in der Zeitschrift „Beten, Arbeiten und Erziehen“, in dem massiv davor gewarnt wird, Kinder nachts aus ihrem Bettchen zu nehmen.

Also halte ich ihre Hände fest, denn durch ihre eigenen hektischen Bewegungen wird sie zumeist erst richtig wach. Das nimmt sie mir augenblicklich übel, zappelt stärker, ich halte gegen, sie zappelt noch stärker, und schließlich fällt ihr die stärkste Waffe eines Babys ein: Sie fängt an zu weinen.

Nun gut, denke ich, auch nicht dramatisch, dann nehme ich sie halt kurz mal raus.

Nele bricht sofort in Begeisterungsstürme aus, auch wenn sie noch etwas rammdösig ist. „Oh, er will mit mir spielen!“, scheint sie zu denken. „Irrtum!“ teile ich ihr ungefragt mit, was sie mit einem sanften Patschen ins Gesicht quittiert. Sie sucht meine Brille, wird auch sofort fündig und wirft sie herunter.

Nun sehe ich mich gezwungen, die Nachttischlampe anzumachen, um meine Sehhilfe zu suchen. Ich taste auf der Bettdecke nach meiner Brille, kann sie auch schon nach wenigen Minuten entdecken und stelle nach Wiederherstellung meiner Sehkraft fest, dass Nele nun wirklich wach ist.

Ich beginne daraufhin, sie zu „schuckeln“. „Schuckeln“ ist Jungeltern-Jargon und bedeutet, dass man sich mit dem Baby auf dem Arm hüpfend auf einen ziemlich unbequemen, aber angeblich total gesunden Gymnastikball setzt. Der Erfolg stellt sich schon bald ein. Nur, dass nicht meine Tochter müde wird, sondern ich.

Sie äußert leisen, verhaltenen Protest gegen die Versuche, sie zum Schweigen beziehungsweise zum Schlafen zu bringen.

Mir werden unterdessen die Arme lahm.

Neles Protest-Nölen wird daraufhin deutlich lauter.

Ich hüpfe stärker. Je wacher sie ist, desto höher muss man hüpfen.

Dann endlich sackt ihr Kopf an meine männlich-harte Brust und ich kann mich auf den Weg machen, sie ins Bett zu bringen. Dazu muss ich aufstehen.

Nele interpretiert das Aufstehen als Fallen, wirft die Arme hoch und reißt die Augen auf.

Diesmal hüpfe ich besser, schon nach wenigen Minuten schläft sie ein.

Ich versuche wieder aufzustehen, der Ball knatscht, Nele schlägt die Augen auf und ist wieder wach.

Sie beginnt, sich laut lautstark darüber zu beschweren, dass ich sie nicht schlafen lasse… ein Teufelskreis.

Endlich jedoch reißt sie noch einmal ihren Mund zu einem gewaltigen Gähnen auf, dann endlich schließen sich ihre Augen.

Es gelingt mir diesmal, die Arme ruhig zu halten, und auch der Ball knatscht nicht.

An der Schlafzimmertür muss ich jedoch feststellen, dass diese zugefallen ist.

Mit der einen Hand versuche ich, die Türklinke zu ergreifen, wozu ich mich etwas herunter zu beugen haben – was Nele als willkommene Möglichkeit sieht, aufzuschrecken.

Inzwischen hat sich die Katze zu uns gesellt, erfreut über unser nächtliches Beisammensein.

Sie streicht um meine Beine.

Psst!“ flüstere ich.

Mau!“ antwortet sie.

Karla, sei still!“ sage ich leise.

MAU!“ antwortet sie laut.

Nele beginnt, sich suchend umzugucken.

Kschsch!“ sage ich jetzt, energischer werdend, zu Karla.

MAAAAUUUU!!!!“ antwortet sie protestierend.

Okay, okay. Ich verziehe mich mit Nele ins Schlafzimmer und rolle dabei den Gymnastikball vor mir her. Karla will die Chance nutzen, in die verbotene Zone „Schlafzimmer“ einzudringen. Ich gebe dem Ball einen winzigen Kick. Er rollt drohend auf den vierbeinigen Fellpuschel zu, der daraufhin den Rückzug antritt.

Im Schlafzimmer hocke ich mich wieder auf den Ball, während Karla vor der Tür versucht, auf sich aufmerksam zu machen. Nele bemüht sich währenddessen wieder einzudösen, was ihr endlich auch gelingt.

Beim Hochsteigen auf das Podest – es ist zu erahnen! – wird sie jedoch wieder wach.

Also zurück auf den Ball. Höchst konzentriert schaut sie mich an, was befürchten lässt, dass sie gerade ihr Geschäft verrichtet.

Eine Geruchsprobe bestätigt meine Vermutung. Die orange Karottenkacke steht ihr bis zum Bauchnabel. Doch auch das ist schnell erledigt, sie wird fix gesäubert und nach einem kurzen Ringkampf, den ich souverän gewinne, kann ich sie wickeln und ihr den Schlafanzug anziehen.

Seit ihrem frühabendlichen Erwachen sind mittlerweile einige Stunden vergangen, die ich mit spielen, Fläschchen geben, schuckeln, spielen, anbrüllen lassen und spielen verbringe – der Versuch mit etwas Ablenkung durch Fernsehen zu verschaffen, scheitert an „Helga, der Meisterin“, die auf den wenigen Fernsehkanälen, die wir empfangen können, Werbung für ihren jugendgefährdenden Beruf macht.

Außerdem wird Nele durch Fernsehbilder keineswegs müder, sei der Film auch noch so langweilig. Auch das Fläschchen ist keine große Hilfe mehr. Langsam scheint ihr bewusst zu werden, dass da jemand fehlt: die Mutter.

Jetzt, weit nach Mitternacht, reicht es Nele. Sie beginnt ein bisschen zu weinen, was verschärft wird, nachdem nach fünf Minuten immer noch keine Mama da ist. Das anschließende Brüllen geht nahtlos in ein infernalisches Kreischen über. Mein Nervenkostüm ist zum Zerreißen gespannt. „Was erlaubt sich diese Frau?“, denke ich, „Nun ist sie schon seit vier Stunden weg!“, was – ich gebe es zu – nicht wirklich lange ist. Aber Babys und Väter haben keine Geduld.

Ich überlege, ob ich Anita anrufen soll und stelle mir die möglichen Telefonate vor. Am anderen Ende wird irgendein betrunkener Gast den Hörer abnehmen, behaupten, dass ich mich verwählt hätte und gleich wieder auflegen. Das ist die gute Variante. Die schlechte ist die, dass ein kinderloser Bekannter ans Telefon geht, sich über meinen Anruf mokiert, dolle lustige Sprüche macht und mich (also natürlich nicht mich, sondern den Hörer) herumreicht, bis ich irgendwann Anita am Telefon habe bzw. auch nicht, weil sie gerade eben weg ist, was angeblich aber niemand wusste. Eine weitere Möglichkeit ist die, dass ein anderer Vater oder eine andere Mutter abnimmt und mir einen Vortrag darüber hält, dass man Kinder doch einfach nur ins Bett legen muss, dann schlafen sie schon ein – das ist natürlich eine Lüge, und alle wissen es, aber sie lässt sich kaum empirisch widerlegen, weil all die ganzen Übereltern nicht bereit sind, den Makel eines schlaflosen Babys zuzugeben.

Ich greife also nicht zum Telefon, sondern wende alle Kniffe an, die mir einfallen, um Nele ruhig zu stellen. Ich erinnere mich sogar an den alten Bauern-Trick, Milch mit einem Schuss Schnaps zu mischen, und so das Kind in Rekordzeit in den Schlaf zu katapultieren. Leider meldet sich mein Gewissen zu Wort und hält eine kurze, aber eindringliche Ansprache.

Dann endlich, eine halbe Ewigkeit ist vergangen, höre ich den Schlüssel im Wohnungstürschloss: Anita kommt nach Hause. Die Katze ist allerdings schneller: Sie nutzt die Chance, dem Wohnungsgefängnis zu entkommen und befindet sich nun auf dem Hof.

Rasch drücke ich Anita Nele in die Hand. Unser Kind ist begeistert!

Ich krieche währenddessen auf dem Hof herum und suche in der Dunkelheit eine kleine schwarze Katze. Sie ist nirgendwo zu sehen. Nach einiger Zeit habe ich das Versteckspielen satt und will in die Wohnung zurück. Vor der Tür wartet die besagte kleine schwarze Katze und blickt mich vorwurfsvoll an.

Anita ist in der Zwischenzeit schon zu Bett gegangen. „Nele“, murmelt sie, „schläft schon wieder. Sie wollte nur etwas trinken und war ansonsten hundemüde.“

Meine Freundin hat mir also wieder bewiesen, dass wir Väter im Ernstfall gegen die Mütter keine Chance haben. Und doch bin ich zufrieden. Denn auch ich habe allen Vätern vor, nach und neben mir bewiesen, dass ich ein guter Papa bin – geduldig und aufopferungsvoll. Und müde.

Ich geh’ jetzt zu Bett. Dass Nele spät einschläft, heißt nämlich leider nicht, dass sie auch spät aufwacht.

 

Der lange Marsch