2. September 2022. Eintracht Braunschweig ist gerade erst in die 2. Liga aufgestiegen. Und schon wieder auf dem Weg nach unten. Die bisherige Bilanz zeugt diesbezüglich von großer Zielstrebigkeit: ein Punkt aus sechs Spielen, 3:15 Tore. Vor allem die Verwertung der durchaus vorhandenen Chancen ist desaströs. Alle Tormöglichkeiten werden konsequent vergeben, von bedauerlichen Ausnahmen abgesehen. Bestes Spiel in dieser Saison war bisher das gegen Hertha BSC. Die Berliner (West) waren wieder einmal von der Eintracht aus dem Pokal gekegelt worden, diesmal in einem flutlichtbeleuchteten Elfmeterschießen.
Auch das heutige Spiel gegen Nürnberg findet bei künstlicher Beleuchtung und schlechter Witterung statt. „Das liegt uns. Das ist unser Wetter.“ So versuchen wir uns das Spiel schönzureden.
Ich tippe auf ein 3:0. Weil ein Sieg her muss! Wir haben ja keine andere Wahl. Wat mutt, dat mutt, sagte man früher in meinem Heimatdorf im Heideland. Alles andere als ein Sieg ist keine Option.
Das sehen die Eintracht-Spieler anscheinend nicht so. Schon bald liegen sie 0:1 zurück. Überraschenderweise folgt – fast ein wenig unverdient – schon bald der Ausgleich durch Kaufmann, nach einer Vorlage von Pherai. Es folgt ein Nürnberger Tor und wieder – fast ein wenig unverdient – der Ausgleich durch die … nun ja … Torfabrik Ujah.
Zur Halbzeitpause steht es 2:2. Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst, weshalb ich erstmal ein Bier holen gehen will. Die Stimmung hier unten in Block 5 ist wie immer äußerst harmonisch. Man hat sich lieb in der Kurve. Deswegen muss ich gleich drei Getränke mitbringen.
Mit Nathan de Medina und Filip Benkovic stehen heute zwei neue Spieler stehen auf dem Feld. Sie sind erst seit ein paar Tagen hier bei der Eintracht, haben also kaum Trainingseinheiten mitmachen können, geschweige denn, dass sie in irgendein Spielsystem hätten eingebaut werden können. Das erklärt zumindest teilweise die rekordverdächtige Fehlpassquote – diverse Bälle gehen gleich wieder zum Gegner oder auch einfach in die Butnik. Und die Laufwege der Herrn sind unergründlich.
Immerhin steht es noch unentschieden im Stadion.
Nach der Halbzeit steht eine andere Mannschaft auf dem Platz. Die Spieler tragen zwar den gleichen Namen wie die aus der ersten Hälfte, scheinen aber andere Personen zu sein. Und sie stehen auch nicht mehr. Sie laufen, sie rennen, sie fighten, sie gehen dem Gegner entgegen. Sie erkämpfen sich Bälle und Torchancen. Und Pherai und Kaufmann treffen.
Das Publikum ist elektrisiert. Die Gesänge werden lauter, fordernder, ja, hoffnungsvoller. Auch im Block selbst scheint es voller zu werden. Wo kommen plötzlich die ganzen Leute her? Dem 3:2 folgt das 4:2. Jetzt geht das Publikum steil!
In Block 5 wird der Zaun besetzt. Man sieht fast gar nichts mehr.
Die Eintracht-Fans und -Spieler wollen ein fünftes Tor. Kriegen sie aber nicht. Aber das macht nichts. Die Anspannung fällt von uns allen ab, vor und hinter dem Zaun. Und auch auf dem Zaun.
Ein Wunder ist geschehen! Eine bisher mehr oder weniger erfolglose Mannschaft hat mit Hilfe von zwei brandneuen, unerfahrenen Spielern einen triumphalen Sieg errungen. Das sind die Spiele, für die man ins Stadion geht.
Im Anschluss wird der Sieg gefeiert – und die Mannschaft auf die nächste bevorstehende Aufgabe vorbereitet. „Wir woll‘n den Derbysieg, wir woll‘n den Derbysieg, wir woll‘n, wir woll‘n, wir woll‘n den Derbysieg!“, skandiert die Südkurve vollmundig.
Im Anschluss geht es noch zum Stammkiosk, denn das Spiel verlangt nach einer ausführlichen und kompetenten Nachbereitung. Alle sind sich einig, dass es mehr als gewagt war, mit dieser Teamaufstellung ins Match zu gehen. Aber irgendwie auch verständlich, denn vorher lief es ja auch nicht, da kann man auch schon mal zwei Neue bringen und hoffen, dass der Gegner genauso verwirrt ist wie man selbst.
Aber das wichtigste war sicher die Einstellung der Spieler. Ihr unbedingter Wille zum Sieg. Beziehungsweise dringlicher Wunsch, auch mal zu gewinnen.
Die einzige Dame in unserer Herrenrunde erzählt, dass sie das letzte Spiel verpasst hat, weil sie mit ihrer Familie auf Sommerfrische auf Norderney war. „Scheiße, scheiße, Norderney! Scheiß Norderney!“, schallt es ihr daraufhin wohltönend und lautstark entgegen.
Spät geht es nach Hause.
Am nächsten Tag werde ich von einem mittelschweren Kater begleitet. Ich streichle ihn freundlich. Sooo süß!
Mehr über Eintracht Braunschweig habe ich in meinen Büchern „Blau-Gelb-Sucht„, „Eintracht Braunschweig – Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“ und „111 Gründe, Eintracht Braunschweig zu lieben“ geschrieben.
Hier geht es zum nächsten Teil des Saisonrückblicks 2022/2024.