Die westlichen Werte sind wundervoll. Wir sollten sie alle viel mehr zu schätzen wissen.
Apropos schätzen. Schätzen Sie mal, wie hoch die Gaspreise im Winter 2027/2028 sein werden. Können Sie nicht? Weil Sie nicht wissen, wie hoch die Inflationsrate sein wird und wie sich die weltpolitische Lage entwickeln wird? Und weil Sie im Matheunterricht auch keine Sieger-, sondern nur eine Teilnahmeurkunde bekommen haben?
Sie sollten das aber wissen, denn ein enzyklopädisches Wissen im Fach Warenkunde ist heutzutage unverzichtbare Voraussetzung für das Überleben im Kapitalismus.
Klar, im Prinzip war das schon immer so. Schon die Nahrungsmittel sammelnde Steinzeitfrau musste die feine Unterscheidung zwischen den schädlichen roten Pilzen mit den weißen Punkten und den leckeren kleinen Pfifferlingen kennen, sonst war schnell Schluss mit dem ohnehin schon kurzem Steinzeitleben. Aber das ist nichts im Vergleich mit dem, was heute von einem verlangt wird. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist im Kapitalismus natürlich der Preis. Wenn ich kein Millionär bin, werde ich mir wohl kein Originalbild von Van Gogh leisten können, sondern nur einen Kunstdruck. Oder auch nur eine billige Postkarte.
Die gesellschaftliche Rangordnung zeigt sich schon im Supermarkt und nicht nur am Preis: Oben im Regal die teuren Waren für den aufrecht einkaufenden Gutverdiener, unten die billigen, für all die, die sich nun mal bücken müssen, um den Mittagstisch bestücken zu können. Aber unterscheiden sich denn Marken- und No-Name-Produkte qualitativ überhaupt von einander?
Nichts genaues weiß man nicht, hätte meine Mutter zu diesem Thema gesagt (und hätte, wie so oft, Recht gehabt damit).
Doch gibt es ja – tara! – ein paar Kennzeichnungen, die einem bei der Auswahl der Waren helfen. Die Qualität als solche erkennt man zum Beispiel ganz einfach an dem Siegel der Stiftung Warentest. Wobei natürlich nur die Testsieger das Ergebnis auf die Shampooflasche drucken, während die Verlierer damit nicht so oft hausieren gehen. „Letzter von 30 geprüften Shampoos in der Duftnote Pfirsich-Maracuja – Note mangelhaft“ – so etwas liest man eher selten.
Okay, macht nix, denn es gibt ja noch weitere Siegel: den Nutriscore zum Beispiel, der aber auch irgendwie freiwillig zu sein scheint, denn außer einem grünen A oder B oder einem gelben C sieht man ihn eigentlich fast nie.
Bei tierischen Produkten hilft immerhin die Angabe der Haltungsform. Konträr zum Nutriscore liest sie sich jedoch von rechts (gut) nach links (schlecht) und nicht umgekehrt. Dafür sind die Farben fast ähnlich: grün ist gut und rot ist schlecht. Blau ist hingegen halbschlecht und orange halbgut. Niemand weiß warum. Außerdem gibt es Zahlen (1 – 4) statt Buchstaben. Und nicht vergessen: hoch ist gut, niedrig ist schlecht. Wir sind ja nicht in der Schule. Puh…
Was könnte denn für die bewusste Konsumentin noch interessant sein?
Ach ja, für fleischfrei essende Menschen ist es ja wichtig, ob ihre Nahrung vegan, vegetarisch oder karnivor ist. Natürlich gibt es auch hierfür ein Siegel, aber es ist – Überraschung! – freiwillig. Und es sagt aus, ob etwas vegan ist oder vegetarisch, aber nicht, ob es in irgendeiner Form mit totem Fleisch hergestellt wurde. Dabei verstecken sich die kleinen Leichenteile doch überall, sogar in Käse oder in Wein. Wäre es da nicht angebracht…?
Gott bewahre! Man soll im Kapitalismus leben wie Gott in Frankreich, aber nur, wenn man Gottes Allwissenheit hat. Oder zumindest diese zahllosen Siegel richtig interpretieren kann. Um sie dann noch korrekt in ein richtiges Verhältnis zueinander zu setzen: diverse Biosiegel, „Fairtrade“, „Güteklasse“, Herkunftsinformationen, „Ohne Gentechnik“, „Pro Weideland“, „Aktion Tierwohl“, „FC-Verpackung“ (wtf ist das?), „Umweltengel“, „Klimaneutrales Produkt“… Und dann ist da noch die Zutatenliste, die Angabe der durchschnittlichen Nährwerte… Will ich Erdbeeren aus Deutschland essen? Oder dem europäischen Ausland? Ist es besser, das heimische Handwerk zu unterstützen oder die Wirtschaft im globalen Süden? Wie wirken sich Lieferwege auf die Umwelt aus und wie ist das noch mal mit diesen Lieferketten… Woher weiß ich, wer was in welchem Land zu welchen Bedingungen herstellt?
Und wenn man dann all das irgendwie miteinander verglichen hat, könnte man wissen, was man kaufen soll: Also lieber glutenfreie Milch ohne Kükentöten als fettarme und laktosefreie Eier! Aber sind pasteurisierte Mandarinen wirklich leckerer als „KAT“-geprüfsiegelte Haselnüsse?
„Demeter“ oder „Bioland“, proteinreich oder fettarm, dumm oder dümmer? Im Grunde genommen sind das nur Luxusfragen. Denn für die meisten Konsumenten bleiben sowieso nur die „ganz gut und einigermaßen günstig“-Produkte, weil der Geldbeutel eh nicht mehr hergibt. Aber die „upper upper class, high society“ hat die Qual der Wahl. Will sie gut essen? Oder die Welt retten? Oder sich zumindest ein gutes Gefühl und reines Gewissen erkaufen? Damit wären wir wieder bei der westlichen Wertedebatte: Welchen Wert hat welche Ware? Und was ist sie wirklich wert? Und was ist sie mir wert?
Es bleibt also die Erkenntnis, dass die Freiheit immer die Freiheit der Besserverdienenden ist. Je reicher, desto freier und wählerischer darf man sein.

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