Wir erkennen keine ‚Herren‘ an – und wir wollen nichts von den ‚Kerls‘ wissen. Wir wollen andere Typen. Was wir wünschen, ist, daß sich aus den beiden unmöglichen Arten eine neue entwickelt. Wir haben genug und übergenug von dem Herrn und auch von dem Kerl. Wir erhoffen den Mann.“ Kurt Tucholsky

Der große Max Goldt erwähnte in einem seiner Texte, dass eine Dame jahrelang darauf geklagt habe, behördlicherseits nicht mit „Frau“ und ihrem Nachnamen, sondern eben mit „Dame“ und ihrem Nachnamen angeschrieben zu werden. Er berichtete nicht, wie der Fall ausgegangen ist, aber ich befürchte, die Klage wird zurückgewiesen worden sein. Ich bedauere das tatsächlich ein bisschen, denn dies wäre durchaus gerecht, schließlich werden Männer ja auch mit „Herr“ angesprochen. Bei dem Wort „Herrin“ schwingt wiederum eine doch recht deutliche sexuelle Konnotation mit, die ich deutschen Beamten und Behördenangestellten gleich welchen Geschlechts nicht zu benutzen zumuten möchte.

Andererseits würde das Wort „Dame“ verhindern, dass man sich – zumal im Email-Verkehr – langsam und dezent annähert: von „Sehr geehrte Frau Müller“ über „Liebe Frau Müller“ zu „Hallo Frau Müller“. Um dann bei „Hallo Sabine“ zu enden. Alles weitergehende gehört in den Bereich der persönlichen Freundschaft und sollte im offiziellen Verkehr dringend vermieden werden.

Umgekehrt gäbe es auch die Möglichkeit. „Mann“ zu schreiben. Also „Sehr geehrter Mann Müller“, „Lieber Mann Müller“ und „Hallo Mann Müller“. Um dann bei „Hallo Ulf“ zu enden. Aber irgendwie gefällt mir das nicht. Vielleicht ist es nur die Gewohnheit, die mich davon abhält, diese Anrede in Betracht zu ziehen.

In manchen Anschreiben wird hingegen schon ganz auf eine so förmliche Anrede verzichtet und stattdessen „Sehr geehrte Sabine Müller“ oder „Sehr geehrter Ulf Müller“ geschrieben. Aber ist das die Lösung? Zumal in der heutigen Zeit, wo nicht wenig Wert darauf gelegt wird, dass es Menschen gibt, die sich einer geschlechtlichen Zuordnung entziehen möchten. Oder ein drittes, viertes oder fünftes Geschlecht bevorzugen. „Sehr geehrtes Divers Müller“ scheint mir recht ungelenk zu sein. Davon mal abgesehen, dass mir die Verwendung des sächlichen Artikels für die Anrede von Angehörigen des Menschengeschlechts großes Unbehagen bereiten würde. Vielleicht weil ich dabei immer den Satz „Es reibe sich jetzt die Haut mit der Lotion ein“ aus dem monströsen Film „Das Schweigen der Lämmer“ im Ohr hätte. Nein, das möchte ich nicht.

Aber natürlich meinte Kurt Tucholsky etwas ganz anderes in den eingangs zitierten Sätzen. Er wollte keine „Herrn“ und keine „Kerls“, sondern „Männer“. Und er wollte keine Offiziere und keine Soldaten, sondern Menschen. Auf diesem Weg sind wir schon eine gute Strecke gegangen, sollten jedoch nun keine Pause einlegen, sondern zügig voranschreiten.

Die Einführung des Zivildiensts, der ja eigentlich bloß ein Ersatzdienst für junge Männer war, die sich der Wehrpflicht verweigerten, meist mit dem Hinweis auf eine vermeintlich existierende Großmutter und ihre Kriegstraumata oder den aus Stalingrad nicht zurück gekehrten Großvater (aus dessen verfrühten Ableben wiederum die Kriegstraumata der erwähnten Oma resultierten), ist da durchaus als ein Fortschritt zu nennen. Ich kann dies beurteilen, denn auch ich rühme mich, so geistesgegenwärtig gewesen zu sein, meinen Wehrdienst zu verweigern und stattdessen im Rahmen des Katastrophenschutzes der Deutschen Bundespost zur Bewässerung der Baumbestände auf Grundstücken hoheitlicher Einrichtungen des Bundesfernmeldewesens beigetragen zu haben. Zumeist dürfte dies wohl von unserem Vorgesetzten als feuerwehrliche Löschübung in den Akten vermerkt worden sein.

Für diese Erfahrung bin ich sehr dankbar, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass mir so die Erfahrungen erspart geblieben sind, die ich bei der Bundeswehr gemacht hätte. Dort wäre ich ein beständig zu maßregelnder Kerl gewesen. „Und nun auf den Boden und 50 Liegestütze!“ Weiß Gott keine schöne Vorstellung!

Das eingangs angesprochene Anredeproblem ist mit dieser Abschweifung natürlich nicht gelöst, aber nicht immer weiß man für drängende Anliegen eine sofortige Möglichkeit der Klärung zu nennen.

Doch ist das Aushalten von Widersprüchen etwas, was man im Laufe seines Lebens sowieso zu erlernen hat. Dazu sollte man Manns genug sein.

Beziehungsweise Fraus.

Open-Air-Festivals

Axel Klingenberg: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen! | Verlag Andreas Reiffer (verlag-reiffer.de)