Erstaunlich ist, wie schnell man zum Experten werden kann heutzutage.

Gestern waren wir noch alle Gesundheitsministerin in spe, heute sind wir alle Osteuropa-Experten und wissen, dass die Ukraine schon immer ein westliches Land war. Niemand kann zwar sagen, wann das gewesen sein soll – also zu welchem Zeitpunkt die Ukraine kein Teil Russlands war – aber das ist ja egal.

Die Ukraine ist westlich – also gehört sie zu uns.

Westlich, östlich … Was heißt das überhaupt? Zumal auf einer ziemlich runden Kugel, die im Weltall rumeiert? Von Europa aus gesehen ist China im Osten. Von China aus gesehen ist Japan im Osten. Allerdings ist Europa von den USA aus betrachtet ebenfalls im Osten. Sorry, Leute, das ergibt überhaupt gar keinen Sinn. Es sei denn, der Westen meint gar keine Himmelsrichtung, sondern ist doch bloß eine Sache der Einstellung.

Vielleicht wird dann ja ein Wanderschuh draus?

Und was ist der Westen überhaupt?

Der Westen steht für Marktwirtschaft. Also für Kapitalismus. Das ist in Russland aber nicht anders als in der Ukraine und in China nicht anders als in Japan. Und auch Amerika und Europa unterscheiden sich hier rein gar überhaupt nicht. Den Sozialismus als vorherrschende Herrschaftsform gibt es eigentlich nur noch auf Kuba und in Nordkorea. Mit den bekannten Erfolgen.

Menschen, die ich wirklich hasse, würde ich nach Nordkorea schicken. Björn Höcke zum Beispiel.

Was ist der Westen noch? Ach ja, demokratisch. Wobei Demokratie heutzutage mehr die Herrschaft über das Volk zu meinen scheint, als die Herrschaft des Volkes.

„Hey, ihr dürft mich wählen! Aber nur zu meinen Bedingungen.“ Also wahlweise Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht. Und wenn Verhältniswahlrecht, dann mit irgendeiner Prozenthürde. Prozenthürde ist immer gut. Dann sind schon mal ein paar lästige Konkurrenten ausgeschaltet. In Deutschland sammeln sich die Wählerstimmen für die Parteien, die nicht über die heilige Fünfprozenthürde hüpfen,bei jeder Wahl auf 10 bis 15 Prozent an.

10 bis 15 Prozent! „Sorry Leute, ihr habt das Falsche gewählt! Eure Stimme schmeißen wir in den Mülleimer!“ Zack, weg ist sie. Da bekommt der Ausdruck „Wahlurne“ doch gleich eine neue Bedeutung.

So gibt es gleich viel schönere Wahlergebnisse. Und weniger Meinungen im Parlament. Meinungsvielfalt ist nämlich schlecht. Weniger Meinungen erleichtern das Regieren.

Okay, also Demokratie scheint also auch eine Sache der Auslegung zu sein. Oder der Auswahl der Mittel. Der Wahl der Waffen.

Setze ich die Prozenthürde nur hoch genug an, habe ich einfach gar keine Opposition mehr. Und endlich wieder einen Einparteienstaat!

Oder ich mache es wie in Griechenland. Da kriegt die Partei, die ohnehin schon am meisten Stimmen bekommen hat, einfach ein paar Extrasitze dazu. Damit sie einfach immer die Opposition überstimmen kann. Praktisch sowas.

Was ist der Westen noch außer irgendwas mit Wirtschaft und Herrschaft?

Menschenrechte. Und das ist vielleicht der eigentliche Punkt.

Menschenrechte sind cool.

Und das geilste ist: Sie gelten für alle. Und sie gelten überall. Sie sind global. Sie sind sogar universell.

Sie gelten also nicht nur im Westen, sondern auch im Osten. Und im Norden und im Süden.

Einfach überall. Sogar auf dem Mond. Und auf dem Mars. Also wenn da Menschen sind. Sobald irgendwo ein Mensch auftaucht, zack, gibt es da auch Menschenrechte. Auch da, wo es gar keine Himmelsrichtung gibt. Also im Weltall. Selbst in einem Raumschiff. „Hey, du da in der Kombüse. Ich murkse dich jetzt ab. Weil hier gibt es keine Menschenrechte. Hier gibt es nämlich keinen Westen.“ Kannste nicht machen. Menschenrechte gibt es auch hier. Auch ohne Himmelsrichtungen.

Das ist genau das, was die identitären Vögel von rechts und links nicht verstehen wollen: Menschenrechte gelten überall. Sie sind universell. Sie gelten sogar auf der Erde. Und nicht nur im Westen, sondern auch im Osten. Sogar im Nahen Osten. Also in Dresden.

Und in Israel und Palästina!

Israelische Dörfer überfallen und Menschen abmurksen und Frauen vergewaltigen und Geiseln nehmen geht nicht.

Menschenrechte gelten auch für Israelis. Ja, sogar für jüdische Israelis!

Das war schon immer schwer zu verstehen, hier im Abendland, das die AfD so gerne retten möchte.

Und jetzt kommt‘s: Menschenrechte gelten auch für Araber. Auch auf Araber darf man nicht einfach schießen und Bomben werfen und man darf auch nicht einfach da Siedlungen hinsetzen, wo schon Dörfer sind. Man muss die Leute, die da wohnen, vorher fragen, ob es ihnen recht ist.

Und ich glaube, momentan ist kein guter Zeitpunkt für so eine Frage. Dann vielleicht doch lieber nicht in der Westbank siedeln. Ist keine gute Idee gerade.

Vielleicht sogar mal einen Kompromiss schließen. Um des lieben Friedens willen.

Denn wer tot ist, kann nirgendwo wohnen. Weder in Israel noch in Palästina.

Also einfach mal auf der eigenen Seite bleiben.

Und das gilt für alle.

Das ist vielleicht die Quintessenz des Universalismus. Mach dein Ding, aber geh anderen nicht auf den Sack damit.

Dann läuft das auch besser hier auf Erden.

So ganz ohne Westen und Osten.

Das ist wie bei uns im Mietshaus. Da wohne ich ja nicht allein, sondern da wohnen auch noch andere Leute.

Nette Leute, die meisten. Eigentlich alle.

Man sollte ihnen bloß nicht ständig auf den Keks gehen.

Also möglichst gar nicht.

Man kann schon mal ne Party machen.

Und so richtig laut feiern. Nur nicht jedes Wochenende.

Und ich kann auch nicht einfach in ihre Wohnung einbrechen.

Man stelle sich das vor: Frau Meisenwinkel wacht morgens auf und schlurft in die Küche. Und da sitze dann ich.

„Was machen Sie denn hier?“, fragt sie mich dann wahrscheinlich.

Und ich so: „Ich sitze hier, weil ich mich bedroht gefühlt habe von Ihnen!“

Sie schaut mich entgeistert an.

Ich denke, Sie wissen, auf was ich hinaus will: Frau Meisenwinkel ist die Ukraine und ich bin Russland in diesem Beispiel. Das ist natürlich rein fiktiv. Nur so als Vergleich. Ich bin nämlich gar kein Russe und Frau Meisenwinkel kommt nicht aus der Ukraine.

„Aber ich habe Ihnen doch gar nichts getan!“, sagt Frau Meisenwinkel dann.

„Doch haben Sie!“, erwidere ich. „Sie hatten Geburtstag und haben mich nicht eingeladen. Sondern nur die anderen Nachbarn, Herrn Posemuckel zum Beispiel und die WG aus dem 2. Stock.“

„Ja, aber die waren auch immer sehr nett zu mir“, erklärt mir Frau Meisenwinkel. „Und Sie sind nicht so nett. Sie sind sogar oft sehr unfreundlich. Deswegen lade ich Sie nicht mehr zu mir ein.“

Daraufhin ziehe ich einen Revolver und schieße auf Frau Meisenwinkel. „Doch, ich bin nett“, rufe ich, „und ich will doch nur ihr Bestes!“

Frau Meisenwinkel läuft schnell weg und verbarrikadiert sich im Wohnzimmer. Glücklicherweise hat es eine schussfeste Brandmauer gegen Rechts.

Dann höre ich, wie sie die Polizei ruft.

„Frau Meisenwinkel, das ist unfair!“, sage ich dann. „Nur weil ich auf Sie schieße, können Sie doch nicht einfach Hilfe holen! Schließlich haben Sie mich bedroht. Als Sie mich nicht zu Ihrem Geburtstag eingeladen haben!“

„Sie sind verrückt geworden!“, schreit Frau Meisenwinkel dann. Ich schieße durch die verschlossene Schiebetür. Frau Meisenwinkel hat sich inzwischen eine Pistole besorgt und schießt zurück.

Die Tür geht langsam ganz kaputt.

Und Flecki, die lustige Hauskatzen von Frau Meisenwinkel, hat es inzwischen auch erwischt!

Das macht Frau Meisenwinkel noch wütender. Am Ende des Tages ist die ganze Wohnung zerstört. Und auch Frau Meisenwinkel und ich sind verwundet.

Das tut verdammt weh.

Fast hätten wir aber keine Munition mehr gehabt, aber die Nachbarn aus dem Westflügel haben Frau Meisenwinkel welche gegeben und ich bekomme welche aus dem Ostflügel.

Ach, es könnte ewig so weiter gehen.

Je ne sais pas un Wagenknecht

Axel Klingenberg: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!