Endlich zu Ende gelesen: „Brüssel sehen und sterben“ von Nico Semsrott.

Semsrott ist Comedien und hat sich eine Weile als Berufspolitiker betätigt – nämlich für die Partei Die Partei, über die er es 2019 eher zufällig und unfreiwillig in das Europaparlament schaffte. Irgendwie stand er auf dem Listenplatz 2 und irgendwie durfte die Partei zur Überraschung aller statt einem gleich zwei Abgeordnete entsenden.

Wodurch Semsrott plötzlich Parlamentarier in Brüssel und Straßburg war. Über den Umstand des Pendels zwischen den beiden Tagungsorten hat sich Martin Sonneborn, der große Vorsitzende der Partei, schon das ein oder andere Mal lustig gemacht. Das war auch durchaus amüsant anzusehen, wie der ganze parlamentarische Tross mit Sack und Pack und Zimmerpflanze auf große Reise ging. Sonneborn konnte diesem Irrsinn also durchaus komische Seiten abgewinnen. Auch Semsrott kommt aus dem komischen Fach, hat aber anscheinend weit weniger Humor, denn er nimmt alles persönlich: die lächerliche Bürokratie, die Mittelmäßigkeit seiner Kolleginnen und Kollegen, ihre Korruptionsanfälligkeit.

Woran liegt‘s? Nun, Semsrotts Bühnenfigur ist depressiv und der Künstler selbst ist es auch. Und er wird nicht müde, darauf hinzuweisen. Vielleicht ist es das, was es schwermacht, seinen Ausführungen zu folgen. Er weiß nichts mit den Möglichkeiten anzufangen, die ihm qua Amt gegeben worden sind: von den außerordentlich hohen Diäten über die zahllosen zusätzlichen Privilegien (ich sag nur: Fahrtkostenerstattung) bis zu einem opulenten Mitarbeiterstab, den er sich zusammenstellen durfte.

Das ist schade, denn zum einen hat er es so versäumt, in den fünf Jahren seines Parlamentarierdaseins etwas daraus zu machen – medial wahrgenommen wurde vor allem das Zerwürfnis mit Martin Sonneborn – und zum anderen, weil das Buch, das er darüber geschrieben hat, weit weniger lustig ist als es sein könnte.

Jean-Philippe Kindler ist ebenfalls Comedien und auch er hat ein Buch geschrieben, in dem er sich mit politischen Themen beschäftigt. „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ heißt es. Und auch dieses ist weit weniger lustig als es klingt, dafür aber trotzdem deutlich lesenswerter. „Eine neue Kapitalismuskritik“ lautet der gänzlich unkomische Untertitel zu dem schmalen Werk. Gerade weil es nicht nur auf lustig macht, ist es so lesenswert. Billige Witze hat es nämlich nicht nötig, denn Kindler brilliert durch seine Analysen. Zwar nicht des Kapitalismus im Ganzen, aber doch seiner aktuellen Ausprägungen – und vor allem, wie diese sich in ihren vermeintlichen Kritikern widerspiegeln. Armut, Glück, Klimakrise und Demokratie müssten repolitisiert werden, schreibt Kindler, dann könne es das gute Leben für alle geben.

Auch Kindler war (oder ist) depressiv (das erzählt er selbst in diesem Buch), doch kreist seine Welt eben nicht nur um diesen höchstbedauerlichen Umstand. Sein Blick ist weiter: Armut, schreibt er, ist nicht das Resultat persönlichen Versagens, sondern ist den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zuständen geschuldet. Die kapitalistischen Mechanismen sind es, die viele Menschen arm machen und einige wenige sehr reich.

Die Klimakrise ist dementsprechend nicht das Resultat persönlichen Fehlverhaltens (wie zum Beispiel der ökologische Fußabdruck suggeriert), sondern das Ergebnis einer Wirtschaftsform, die auf unbegrenztes Wachstum angelegt ist. In diesem Zuge wendet sich Kindler auch gegen die sogenannte Identitätspolitik, wie sie von linker Seite gerne betrieben wird: „Man kann einem heterosexuellen Cis-Mann nur schwerlich erklären, wieso er wahnsinnig privilegiert ist, wenn er von Bürgergeld in einer viel zu kleinen Wohnung im Hochhaus wohnt. Es zeigt sich hier ein wiederkehrendes Problem der Identitätspolitik. Während es auf struktureller Ebene unbestreitbar richtig ist, dass weiße heterosexuelle Männer gesellschaftlich übervorteilt sind, kann man diese Erkenntnis nur schwerlich eins zu eins auf den einzelnen Menschen übertragen.“ Und weiter: „Betroffenheit von Diskriminierung“ werde „mit einer absoluten Deutungshoheit über politisch zu verhandelnde Sachverhalte“ gleichgesetzt. Diese Herangehensweise verhindere, dass linke Politik mehrheitsfähig werde. Und genau darauf komme es an. „Das gute Leben“, konstatiert Kindler, „ist etwas, was es aus der Masse heraus zu erkämpfen gilt.

Das klingt ein bisschen wie der neue Kurs der Linkspartei, die klassenpolitische Fragen in den Mittelpunkt ihres letzten (sehr erfolgreichen) Wahlkampfes gestellt hat – ohne Abstriche bei antirassistischen und feministischen Positionen zu machen. Und tatsächlich – bei Wikipedia ist zu lesen, dass Kindler Mitglied der Partei Die Linke ist und im Büro der Bundestagsabgeordneten Heidi Reichinnek in der Textproduktion arbeitet.

Peter Mertens hingegen ist kein Comedien, er ist Politiker. Und auch er hat ein Buch geschrieben.

„Selbstbewusstsein, Klasse und Internationalismus“ – darum geht es ihm in „Meuterei – Wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät“….

Die vollständige Rezension der Bücher findet ihr beim Bücherblog Wortmax.

 

Dreimal Politik

 

Was soll der ganze Scheiß?