Burg Herzberg also.

Das Festival gibt es seit 1968, seit den goldenen Jahren der Hippie-Ära also, die hier in der Wildnis Nordhessens einfach kein Ende finden wollen.

Jahr für Jahr pilgern Deutschlands letzte und allerletzte Hippies zur Burg Herzberg, um in deren Schatten ein festives Tohuwabohu zu zelebrieren, das in Deutschland, Europa und fast auch der ganzen Welt seinesgleichen sucht.

Zehntausend Langhaarige jeden Alters umarmen sich voll Liebe und Frieden in Herz, Hirn und Blutlaufbahn, um die Seinsvollkommenheit stante pede subito zu erreichen, mit Hilfe von Musik, Yoga und bewusstseinserweiternden Substanzen. Und wenn schon nicht bewusstseinserweiternden, dann wenigstens bewusstseinsverändernden! Und so kommt es, dass ich mich auf die Suche nach einer Luftpumpe für unsere Matratze begebe – und mit zwei bewusstseinserweiternden Küchlein zurückkomme, inklusive einer ausführlichen Gebrauchsanweisung. Die noch ausführlicheren Empfehlungen zum Anbau der wichtigsten Muffin-Zutat weigert sich mein sich noch in konventionellen Kategorien arbeitender Verstand jedoch aufzunehmen. Ich weiß jedoch noch, dass es um die Blütenfarbe ging, die man mithilfe einer guten Handykamera genauestens wahrnehmen kann, um anhand dessen den CBD-, THC- oder OMG-Gehalt zu bestimmen.

In den nächsten Tage hören wir nicht nur tolle Musik, sondern sehen auch blumenbekränzte Blumenkinder und sternhagelvolle Sternenreisende. Wir sehen Hippies, die versuchen, Grashalme zu fotografieren und Hippies, die possierlich auf dem Rasen herumtollen, um imaginäre Sternschnuppen und reale Papierflieger zu jagen. Wir sehen Rockträger*innen allerlei Geschlechts sowie nackte Menschen weiblichen und männlichen Phänotyps unterschiedlicher Schönheit (manche mit Goldstaub bedeckt) sowie schon vor Jahrzehnten inventarisierte Festivalbesucher. Und natürlich sehen wir auch dickbäuchige Herren in modisch enganliegenden Heavy Metal-T-Shirts, als sei das hier Wacken in Schleswig-Holstein und nicht Burg Herzberg bei Woodstock.

Hinzu kommt ein Hund, der Cookie heißt (und wahrscheinlich nach einem Haschkeks benannt ist) und ein anderer, der einen anderen Namen trägt, den ich jedoch vergessen habe. Letzterer winselt hingebungsvoll, weil ihn seine Besitzerin gerne stundenlang am Zelt alleine zurücklässt, bis sie durch Gemeinschaftsdruck (also eine mit Mistgabeln beziehungsweise Campingbesteck bewaffnete Menschenansammlung) ihre tierhalterischen Pflichten entdeckt – und den Chihuahua in ihre Heimatstadt Fulda zurückbringt. Am nächsten Morgen finden wir Erbrochenes vor unserem Auto. Soweit reicht die allumfassende Liebe dann anscheinend doch nicht, dass sie auch Tiere und sich um sie sorgende Nachbarn umfasst. Nebenbei: Eine andere Anliegerin stellt dem kleinen Hündchen einen Napf hin, der gefüllt ist mit Wasser und homöopathischen Zuckerkügelchen: „Gegen die Ängste. Nehme ich selber auch.“

Kulturelle Aneignung ist an diesem Wochenende übrigens ein völlig ignorierter Begriff, denn der hippieske Kosmos umfasst afrikanische Gewänder genauso wie indisches Yoga, libanesische Falafel und afghanischen Damengesang. Womit wir bei der Musik angekommen wären, die ja bei einem Musikfestival im Mittelpunkt stehen sollte, auch wenn ich mir nicht sicher bin, dass alle Besucher auch wirklich etwas von den Bands mitbekommen haben – manche hörten wohl kosmische Klänge, die andere wahrzunehmen nicht in der Lage waren. Ich selbst kann mich jedoch immer recht gut an Cari Cari, DeWolff, Orange, Queen Omega, Motorpsycho, Marley‘s Ghost und eine regionale Blaskapelle erinnern, die zwecks morgendlichen Weckens (es könnte also früher Nachmittag gewesen sein) über den Campingplatz zog. Und natürlich an das stundenlang durch einen Wandermönch vorgetragene Mantra „Matschbanane, Matschbanane, Matschbanane“.

Aber was heißt schon stundenlang, wenn Zeit doch ein in jede Richtung dehnbares Medium ist?

 

Mein Land, meine Welt

Axel Klingenberg: Keine Zukunft für immer